Chiara und Manu balancieren die Attikaplatten übers Baugerüst
Handwerk
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Autor: Inge Fuchs
Fotos: Jendrik Flach

Aufstieg mit Ausblick: Chiara meistert die Großbaustelle

Dachdeckerin Chiara geht ihren Weg: vom Büro auf die Baustelle, von der Gesellin zur Meisterin. Nun übernimmt sie zum ersten Mal die Bauleitung und das auf der ersten Großbaustelle ihres Betriebs. Wir durften sie einen Tag lang begleiten und erfahren, was Chiara bewegt, wer sie unterstützt und wie ihre Pläne für die Zukunft aussehen.

Es ist kurz vor 6 Uhr an einem heißen Junitag in Wattenscheid. Das Thermometer zeigt 17 Grad. Noch kriecht uns die Morgenfrische unter die Haut. Im Innenhof des Dachdeckerbetriebs Monteton verladen Chiara und ihre Kollegen Leitern, Werkzeugkisten und Dachlatten auf die Ladeflächen der dunkelblauen Firmentransporter. Heute geht es mal wieder zur Großbaustelle ins Innere von Bochum. Seit einem Jahr werkeln hier täglich bis zu zehn Mitarbeiter auf über 2.500 Quadratmetern Flachdach. „Das ist unser größtes Projekt bisher“, erzählt Chiara. Für sie ist es auch das erste als Meisterin und Bauleitung.

„Arschbacken zusammenkneifen“

März 2023, bedeckter Himmel, stichelnder Nieselregen. Eineinviertel Jahre ist es her, dass wir Chiara das letzte Mal besucht haben. Damals arbeitete sie als Gesellin zusammen mit ihrem Team auf dem Dach eines Mehrfamilienhauses. Sie erzählte uns von ihren Plänen für die Meisterschule: „Da werde ich neun Monate auf die Meisterprüfung vorbereitet. Dann darf ich mich Dachdeckermeisterin nennen – hoffentlich!“ Was Chiara anfangs auf die leichte Schulter genommen habe, sei bald zu ihrer größten Herausforderung geworden. Büffeln für die Meisterschule, malochen im eigenen Betrieb und knapp 300.000 Follower auf Instagram und TikTok mit witzigen Reels bespaßen. „Ich musste echt die Arschbacken zusammenkneifen“, resümiert sie heute.

Draufsicht: Schneelandschaft trifft auf Asche und Lava

Daily Business auf der Großbaustelle

Der Gebäudekomplex hängt u-förmig zusammen, die Fassaden sind mit Gerüsten eingekleidet. Wir befinden uns zunächst auf der linken Seite bei den Wohneinheiten. Über eine Leiter geht es 15 Meter rauf ins sechste Stockwerk. Der montetonische Lastenaufzug lehnt an der Fassade und befördert sogenannte Attikaplatten nach oben. Chiara und ihr Kollege Manu hängen mit den Oberkörpern übers Gerüst und blicken nach unten. Als die Ladung näher rückt, strecken sie die Arme aus, greifen nach der silbernen Aluminiumplatte und ziehen sie zu sich. Zu zweit balancieren sie die Abdeckungen über den genieteten Gerüstboden, der bei jedem Schritt wackelt und schwingt. So geht das Stück für Stück: Platte ablegen, Halterungen anschrauben, Bleche einklicken, Folie abziehen. Das Aluminium reflektiert die Sonne und schlägt uns die Hitze ins Gesicht. Es ist 10 Uhr morgens, das Thermometer zeigt 23 Grad und Chiara muss nach unten zur Bauleiterbesprechung.

100 Menschen, 20 Gewerke und eine Frau

Seit einem Jahr ist die Firma Monteton täglich mit zwei bis drei Trupps auf der Großbaustelle zugange. Das entspricht in etwa einem Drittel der Belegschaft. Insgesamt sind hier zwischen 100 und 150 verschiedene Fachkräfte am Werkeln. Dieses Thema wollten wir eigentlich nicht ansprechen, aber es fällt zu sehr auf: Chiara ist die einzige Frau. „Ich glaube, manche verstehen gar nicht, was ich als Mädchen hier mache“, vermutet sie. Wenn sie einer nicht für voll nimmt, bleibt Chiara ruhig, cool und besticht mit ihrer Kompetenz. „Das ist nicht immer so leicht“, gesteht sie. Der Ton sei oft rau, doch ihr Meistertitel habe ihr Selbstvertrauen fachlich und persönlich noch einmal gestärkt.

Chiara und Luca: Geschwister halten zusammen

Das erste Mal Baustellenluft schnupperte Chiara zusammen mit Papa Ingo, als sie nach dem abgebrochenen Studium ihre Büroausbildung im elterlichen Betrieb absolvierte. „Das war das Einzige, was mir Spaß gemacht hat“, erzählte sie uns bei unserem vergangenen Besuch. Und heute hat Papa Ingo Baustelle gegen Schreibtisch eingetauscht. Mittlerweile aber nur noch zwei bis drei Tage die Woche und auch mal gerne im Homeoffice. „Der Hof ist voll mit Autos und Luca hat während meiner Meisterschule zehn neue Mitarbeiter eingestellt. Er sieht also, dass es läuft bei uns“, berichtet Chiara über die neuesten Entwicklungen in Sachen Geschäftsübernahme. Chiaras Bruder Luca war es auch, der ihr den Rücken gestärkt hat, während sie sich am Ende der Meisterschule drei Monate aus dem Betriebsalltag rausnehmen musste. „Wir haben eine gute Beziehung zueinander. Auch wenn zwischendurch mal die Fetzen fliegen – wir kommen immer wieder zusammen“, schwärmt Chiara. Und Luca, der während unseres Interviews nebenan im Büro sitzt, schmunzelt, als er die Worte seiner großen Schwester hört.

Feierabend – aber nur für heute

Nach der Bauleiterbesprechung wechselt Chiara auf die rechte Seite des Gebäudekomplexes. Hier soll ein Hotel einziehen. Wir erklimmen erneut das Baugerüst, dieses Mal befinden wir uns in 25 Metern Höhe. Das Flachdach soll begrünt werden, doch vorher muss der Trupp den Untergrund mit Bitumenschweißbahnen abdichten. Fünf Männer heizen mithilfe von Gasbrennern die schwarze Unterseite der Bahnen an, um den Klebstoff zu aktivieren. Von unten spucken die Zylinderköpfe Flammen, von oben knallt die Sonne auf unsere Köpfe. Mit den Füßen in Sicherheitsschuhen rollen die Gesellen die Bahnen aus. Um 12 Uhr zeigt das Thermometer 30 Grad. Chiara läutet für ihre Kollegen den Feierabend ein. Wenn alles nach Plan verläuft, werden die Montetons im September mit ihrer ersten Großbaustelle fertig.

Dachdeckerbetrieb Nummer eins in Bochum

Die letzte Großbaustelle wird diese mit Sicherheit nicht gewesen sein, denn als wir Chiara nach ihren Zukunftsplänen fragen, weiß sie ganz genau, wo sie hinwill: „Noch einen Trupp mehr, noch ein paar Autos mehr und eine neue Abkantbank – von der träum ich schon lange.“ Doch über allem stünde eins: dass alle in der Firma glücklich seien. „Wenn es den Jungs gut geht, dann geht’s mir auch gut“, bekundet sie. Ihr großes Ziel sei es, die Nummer eins Adresse in Bochum zu werden – für die Kundschaft, aber vor allem auch für junge Leute. „Wenn in Bochum eines Tages ein Junge oder ein Mädchen aufsteht und sich denkt ‚Ich will Dachdeckerin werden‘, dann wird Firma Monteton angerufen“, verkündet sie mit breitem Grinsen. Und wir sind uns sicher: Dies wird bestimmt nicht unser letzter Besuch bei Chiara gewesen sein.

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