In den steilsten Weinbergen Europas
40 Grad Celsius bei 40 Prozent Steigung. Winzer Achim Meissner nennt das normale Arbeitsbedingungen im „Flachland“. Doch die Weinlese in Europas steilsten Weinbergen ist mehr als das – ein Knochenjob für Vollprofis, die in extremen Lagen mit viel Fingerspitzengefühl feine Weine herstellen.
Der Calmont-Klettersteig ist die anspruchsvolle und felsige Alternativroute zum bekannten Moselsteig. Sie führt durch steile Rebenhänge über dem Flussufer und gilt als einer der landschaftlich beeindruckendsten – und anspruchsvollsten – Abschnitte der Mehrtagestour von Trier nach Koblenz. Nicht nur Wanderer brauchen hier einen sicheren Tritt.
Denn ganz in der Nähe ist auch für Winzer Achim Meissner und seine Frau Beate guter Halt am Hang gefragt. Doch 40 Prozent Steigung nennt Achim Meissner immer noch „Flachland“. Im Calmont, wo die Meissners in den steilsten Weinlagen Europas 1.400 Quadratmeter Weinberge bewirtschaften, rollt bei jedem Schritt das Schiefergestein unter den Schuhsohlen hinweg – bei bis zu 65 Prozent Steigung.
Der Weinberg will jeden Tag den Winzer sehen
Es ist Ende August im kleinen Ort Bremm an der Mosel. Der mit 540 Kilometern zweitlängste Nebenfluss des Rheins dreht hier eine seiner berühmtesten Schleifen um den nördlichen Ausläufer des Hunsrücks. Volle 180 Grad wechselt der Wasserlauf seine Richtung von Nordwest nach Südost. Der Kirchturm der 800-Seelen-Gemeinde grüßt die Winzer in den steilsten Weinlagen des Kontinents und die Schiffer, die unten auf dem Fluss gemächlich ihre Fracht Richtung Koblenz oder Trier schippern. Vom Gipfelkreuz oben beobachten Wanderer die spektakuläre Szenerie, wenn sich Gleitschirmpiloten ins Tal stürzen. Bei guter Thermik soll schon manch einer über die Moselweinhänge hinweg erst im 100 Kilometer Luftlinie entfernten Köln zur Landung angesetzt haben.
„Der Weinberg will jeden Tag seinen Winzer sehen“, sagt ein altes Sprichwort an der Mosel. Pflege, Zuschnitt und Pflanzenschutz bedeuten viel Arbeit für den Weinbauern. Bis zu 300 Jahre dankt es ihm ein guter Rebstock im Gegenzug mit öchslereicher Ernte. Nur Wetterkapriolen mag die Weinpflanze gar nicht. 2020 mussten Meissner und sein Team nach tagelangem Regen zur Noternte ausrücken, weil die Trauben am Rebstock zu faulen begannen. „Da bist du 16 Stunden am Tag auf den Füßen und weißt, was ein guter Schuh wert ist“, sagt Meissner.
Andererseits sorgen auch zu große Hitze und Trockenheit nicht für ein süßes Traubenleben. Erst verfärben sich die „Körner“ genannten einzelnen Trauben rostfarben, was der Winzer als „Brand“ bezeichnet, um dann im fortgeschrittenen Stadium zur „Mumie“ zu verschrumpeln.
„Dieses Jahr sieht’s gut aus“, sagt Meissner und streift mit der tief gefurchten Hand des Weinbauern über die Reben. „Nächste Woche geht’s los“, ist er sich sicher. Starten will Meissner mit der Weinlese auf seinen eigenen fünf Hektar, wo er hauptsächlich Riesling, Elbling und Müller-Thurgau kultiviert. Und dann sind er und sein kleines Team zwei Monate lang in den Weinbergen der Nachbarn im Dauereinsatz.
Hightech-Ernte am Steilhang
Meissners Geschäftsmodell heißt Weinernte als Dienstleistung. In Schrittgeschwindigkeit nimmt sein Weinvollernter die Rebstöcke zwischen die Räder, schüttelt die Trauben im Vorbeifahren mit fünf Stundenkilometer vom Stock, bläst herabfallende Blätter und alles, was sonst nicht in den Wein gehört weg. Die Trauben fängt der Vollernter in seinen 3.750 Liter großen Tanks auf. Zwei Pedale, die gefühlvoll getreten werden wollen und ein Lenkrad – den Rest steuert die Maschine weitgehend automatisch wie von Geisterhand. Bis zu 40 Grad Steigung schafft der Vollernter. In noch steileren Lagen kommt nur Handarbeit in Frage.
Im Lager werden die Trauben anschließend gepresst und weiterverarbeitet. 175.000 Liter Wein fassen Meissners blitzblanke Edelstahltanks. Der Ernteservice beinhaltet am Ende des Gärprozesses auch die Flaschenabfüllung sowie die Etikettierung. Alles aus einer Hand.
Auf über 60 Prozent der Flaschen steht dann „Riesling“, die beliebteste und am häufigsten angebaute Rebsorte an der Mosel – die den Winzern gleichzeitig die größten Sorgen bereitet. „Dem Riesling wird’s zu heiß“, sagt Meissner mit tiefer Stimme und noch tieferem pfälzischem Dialekt. Durch den Klimawandel wird die Ur-Traube der Region schon in wenigen Jahrzehnten hier völlig verschwunden sein, ist sich der Winzer sicher. Dann wird man auf andere Rebsorten umstellen müssen. Die Arbeit wird damit für die Winzer in den steilsten Weinlagen Europas bestimmt nicht weniger. Und eines ist sicher. Gute Schuhe wird man in den Hängen mit bis zu 65 Prozent Steigung immer benötigen, egal welche Rebsorte dort gedeiht.